Hintergründiges

Geschichten-Erzählen ist eine alte Kunst. Älter als die Kunst des Schreibens.
In der Sahel-Zone sagt man: Jeder Griot, der stirbt, ist eine Bibliothek, die brennt. Und die Geschichten der Griots nennt man oral literature, gesprochene Literatur.
Unsere Schreibkultur hängt auch davon ab, wie sehr unsere Kultur des gesprochenen Wortes, wie sehr unsere Mündlichkeit entwickelt ist.

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Foto: Lothar AlkerMir liegt das Freie Erzählen am Herzen.
Geschichten-Erzählen ist eine alte Kunst. Es ist schön, alte Geschichten in Ehren zu halten. Und sie für unsere Ohren passend zu machen.
Und es ist gut, neue Geschichten zu schaffen. Jede Gesellschaft hat ihre Traditionen, aus denen sie schöpft, und jede Gesellschaft fügt zu den alten noch ein paar neue Geschichten hinzu. Ich füge gerne hinzu.

Zu den Geschichten gehören Erzählungen, womit Schriftsteller etwas Anderes meinen als Erzähler, und sich dann noch - um die Verwirrung auf die Spitze zu treiben - Erzähler nennen.

 

Geschichtenerzählerinnen, die ihre eigenen Geschichten schaffen, sind auch Autoren. Das ist für Kolleginnen schwer zu begreifen, sind die Geschichten doch oft nicht aufgeschrieben, sondern nur erzählt.
Na gut, dafür ist für uns Erzählerinnen nicht leicht zu begreifen, warum Nur-Autoren eine Lesung im Sitzen mit einer kleinen Lampe und einem Glas Wasser abhalten und kaum ihre Zuhörer ansehen.

Zu den Geschichten gehören auch Märchen. Märchenerzähler erzählen Märchen. Geschichtenerzählerinnen erzählen auch andere Geschichten, nicht nur Märchen. Geschichtenerzähler werden durch das Publikum, Eltern, Pädagoginnen, Journalisten als Märchenerzählerinnen wahrgenommen, werden auf Märchen beschränkt: "Du bist doch ein Märchenonkel, nicht?" Dass eine Geschichtenerzählerin auch Anderes erzählt, ist schwer zu vermitteln. Das hat viele Gründe. Der wichtigste ist die Sehnsucht nach der heilen Welt, die von klassischen Märchen befriedigt wird. Und die ist in diesen unsicheren Zeiten verständlicherweise besonders stark. Bert Brecht würde rufen: „Glotzt nicht so romantisch!"

Filmemacher, Autoren, Choreographen sagen manchmal - vor allem in Interviews: 'Ich will eine Geschichte erzählen'. Gelegentlich fügen sie hinzu: 'nur eine ganz einfache Geschichte'. Dann schreibt der Feuilletonist: „Filmemacher hat die ausgestorbene Kunst des Geschichtenerzählens wieder entdeckt!" Na klar, ohne das narrative Element geht es in vielen Kunstformen nicht. Und es ist schön, wenn der ein oder andere Künstler bescheiden auftritt und einfache Dinge tut. Aber mit solchen Statements kann man auch das Pathos des Einfachen zelebrieren. Und die Kunst der lebenden Erzählerinnen wird ignoriert. Schade. Auf der anderen Seite sollten wir uns an die eigene Nase fassen: Warum hat Erzählen offensichtlich einen so hohen Image-Wert und warum sind wir Erzähler so wenig in der Lage, ihn in Münze umzusetzen? meerFoto: Hella Bunte

Übrigens ist Erzählen nicht einfach. Gute Geschichten sind besonders gut, wenn sie gut erzählt werden.
Und doch kann jeder erzählen. So wie (fast) jeder ein Bild malen kann. Manches hat halt eine andere Qualität. Die nennt man dann Kunst.
Der Übergang vom Amateur zum Profi ist gerade beim Erzählen fließend. Das ist eine große Chance, es wird immer Nachwuchs geben. Und es ist eine Gefahr: Dass professionelle Qualität nicht goutiert wird, weil die Kriterien nicht herangebildet wurden, um sie zu erkennen. Wenn das ästhetische Instrumentarium beim Publikum entwickelt wird, kann man klar zwischen Amateuren und Profis unterscheiden. Damit hilft man beiden. Fehlt das, hat das dann auch ökonomische Folgen. Profis können ihre Kunst nur weiter entwickeln und auf hohem Niveau halten, wenn sie genügend Auftritte haben, mit denen sie genügend verdienen.
Übrigens scheint es in allen Kulturen Profis und Amateure bei den Erzählern zu geben. Die Profis in unserer Kultur waren die Troubadoure und Minnesänger. Die Amateure waren die Frauen, denen die Brüder Grimm zugehört haben.

'Erzähl mir nix!' oder: 'Erzähl mir keine Stories!' sagt man so mal dahin. Genau, das ist am Erzählen so herrlich, dass der Erzähler den Zuhörern einen Bären aufbinden kann, und die dann einen Riesenspaß haben, wenn sie es merken und über sich selbst und die Geschichte lachen. Der Erzähler muss ein bisschen verantwortungsvoll mit diesem Glatteis umgehen, auf das er sein Publikum führt. Und die Zuhörer können das Fehlen des festen Bodens unter den Füßen als einen Zustand schätzen, aus dem etwas Neues entstehen kann: Erkenntnis mit Vergnügen.

 

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